Rede zum Volkstrauertag

Eschenbach, 15. November 2015

Sehr geehrte Damen und Herren,

an diesem Volkstrauertag, wo wir der Opfer des 2. Weltkrieges gedenken, trauert in Frankreich das ganze Volk und wir sind Ihnen nahe mit unseren Gedanken.

Lassen Sie uns beginnen mit einer Minute des stillen Gedenkens

an die Opfer der furchtbaren Terrorakte in Paris

  • an die Toten,
  • an diejenigen Menschen, um deren Leben noch gerungen wird,
  • an alle, die an Leib oder Seele verletzt wurden und für ihr Leben gezeichnet sind,
  • an die Angehörigen und Freunde

Ich danke Ihnen.

Was soll man sagen, an einem Tag wie diesem, der geprägt ist von aktuellem Erschrecken. „Nie wieder Krieg!“ so haben es viele nach dem Ende des verheerenden 2. Weltkrieges gerufen. „Nie wieder Krieg!“ – so steht es auf einem alten Plakat, von dem ich einen Druck in meinem Berliner Büro vor Augen habe.

Ich wünschte mir sehr, wir wären weit von einem Krieg entfernt.

Der Volkstrauertag ist für viele in unserem Land ein Sonntag wie jeder andere. Man weiß nicht so recht etwas damit anzufangen und hält es für aus der Zeit gefallen. Dabei gewinnt die Bedeutung dieses Tages gerade in diesem Jahr aufwühlende Aktualität. Gedenken und Trauer, würdevolle Erinnerung an vergangenes Leid – das ist wichtig für die Hinterbliebenen, die Trost finden mögen, wenn sie an diesem Tag Gemeinschaft spüren, wenn sie nicht allein bleiben in ihrer Trauer, die nie völlig abgeschlossen ist.

Der erinnerte Schrecken ist aber gleichzeitig auch Weisung für die Zukunft. Und Gedenken wird dadurch Teil unserer Bemühungen um Frieden.

Wir Deutsche haben aufgrund der Geschichte unseres Landes besonderen Anlass,

uns der Verantwortung für Frieden bewusst zu werden. Unserer Verantwortung für die Verteidigung von Grund- und Menschenrechten. Unserer Verantwortung, Verfolgten und Hilfesuchenden beizustehen. Wir wissen, wie rasch Nationalismus, Rassismus und totalitärer Fanatismus in Krieg münden und die schlimmsten Eigenschaften und grausamsten Abgründe der menschlichen Natur offenlegen und entfesseln können. Meine Generation hatte das Glück, das keine Generation vor uns hier in Deutschland hatte: bisher ein ganzes Leben in Friedenszeiten zu verbringen. Aber in unserer nächsten Nähe ist er weiterhin präsent, der Krieg. Ja, man hat gerade das Gefühl, er rückt näher.

Wir sehen mit Schrecken, wie universelle Werte mit Füßen getreten werden an vielen Krisenherden dieser Welt. Wir sehen, wie menschenverachtend und brutal der IS sein Unwesen treibt – in Syrien, im Nordirak, aber eben auch in unserem Nachbarland Frankreich. Wir sehen Krieg am Rande Europas, in der Ukraine, und unfassbares Sterben auf dem Mittelmeer.

Manche, die heute hier sind, haben die Hölle des 2. Weltkrieges noch erlebt, diesen furchtbaren Krieg, der mehr als 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Wir gedenken all dieser Menschen heute mit tiefem Respekt.

Und all denen, die nach 1945 in Europa Verantwortung übernommen haben, sagen wir nachkommenden Generationen einen tiefen Dank. Wir zollen ihnen Respekt dafür, dass Sie aus den Erfahrungen von Krieg und Gewalt die richtigen Schlüsse gezogen haben. Dass sie aus einem Kontinent der Kriege und Bürgerkriege, die er über Jahrhunderte war, einen Kontinent des Friedens gemacht haben. Davon habe ich am Freitag im Café Asyl in Göppingen erzählt, als ich einigen Flüchtlingsfamilien das Grundgesetz in deutsch-arabischer Übersetzung geschenkt habe. Diese Verfassung bietet noch immer ein solides Fundament für unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat.

Eine der ganz großen Persönlichkeiten, die unser Land nach dem Krieg mit aufgebaut und politisch Verantwortung übernommen hat, betrauern wir gerade in dieser Woche: Helmut Schmidt. Er hat den „Scheißkrieg“, als den er ihn unverhohlen bezeichnete, erlebt und für sich daraus den Schluss gezogen, sich politisch für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen einzusetzen. Und er hat in schwersten Krisenzeiten (Flutkatastrophe in Hamburg, Kalter Krieg zwischen Ost und West und in der Hochzeit des Terrorismus) politische Verantwortung in höchsten Ämtern getragen. Er war fest davon überzeugt, dass „die Leidenschaft der praktischen Vernunft“ unsere Taten lenken muss. Seine Erkenntnis, dass „die Erreichung des moralischen Ziels […] pragmatisches, vernunftgemäßes politisches Handeln [verlangt, und zwar] Schritt für Schritt“ ist sicher auch eine Botschaft, die uns in heutiger Zeit Orientierung geben kann.

Denn die Ansprüche an politisches Handeln sind groß. Als könne Politik komplexe Zusammenhänge und Entwicklungen ganz einfach lösen. Doch Frieden entsteht nicht von selbst und bleibt auch nicht von selbst. Frieden ist niemals ein selbstverständliches Gut. Nicht in Europa, auch nicht nach 70 Jahren friedlicher Entwicklung; und genauso wenig in der übrigen Welt.

Deshalb sehe ich mit Sorge, wie neue nationalistische Stimmungen in Europa und auch in unserem Land wachsenden Widerhall finden. Bei aller berechtigten Sorge in der aktuell angespannten Situation müssen wir wachsam und empfindsam bleiben gegenüber solchen Tendenzen. Dagegen müssen wir unsere Stimme laut und vernehmbar erheben. Ein freies und demokratisches Europa, in dem die Grundrechte für alle Menschen gelten, ist das Fundament unseres Friedens. Freiheit und Demokratie sind der wirksamste Schutz gegen die Rückkehr von Krieg und Gewalt in diesen Kontinent, der über Jahrhunderte von Krieg und Gewalt gezeichnet war. Millionen unschuldige Tote mahnen uns gerade an diesem Tag, dass Nationalismus, Rassismus und totalitäre Ideologien in Europa nie wieder eine Chance bekommen dürfen.

Und sie mahnen zur Menschlichkeit gegenüber all jenen, die ein härteres Schicksal haben als wir. Denn für die Menschen aus Syrien, aus dem Irak, aus Somalia und aus dem Sudan die zu Tausenden derzeit Schutz suchen bei uns – für Sie sind Krieg, Verfolgung und Terror keine Erinnerung. Sie sind ihre bittere Realität. Da können wir sie jetzt dringen brauchen, Helmuts Schmidts praktische Vernunft. Unsere moralische Verantwortung, den Hilfsbedürftigen angemessen zu helfen, können wir nur durch politische Vernunft und geduldige Umsetzung des Möglichen erreichen. Ohne die vielen Ehrenamtlichen, ohne die vielen, die sich auch in ihren Ämtern und Hilfsorganisationen über das Maß des üblichen engagiere, wäre das alles gar nicht zu leisten. Wir brauchen solches pragmatisches und bedachtes Handeln – mit (christlicher) Zuversicht und ohne Illusion den Aufgaben und Herausforderungen zu begegnen. Hier in Deutschland. Aber auch in Europa! Denn die Alternative – nationale Egoismen, Streit und populistische Hetze – würde das zerstören, was Europa seit Jahrzehnten ausmacht: ein freies und friedliches Zusammenleben.

Vielleicht kann gerade in diesem Jahr der Volkstrauertag ein Tag der Besinnung auf das Wesentliche sein, politisch wie persönlich. Denn Anblick der Flüchtenden, die sich mit nichts anderem als der Kleidung auf ihrer Haut zu uns durchschlagen, fällt mir immer wieder Albert Schweitzers Erkenntnis ein, die er 1954 der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo gesagt hat: „Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab.“ Was muss eigentlich passieren, dass ein Mensch diesen Willen zum Leben verliert – so dass er sich herausgefordert sieht, nicht nur seinem eigenen Leben eine Ende zu setzen, sondern auch noch hunderte andere Menschenleben ins Unglück zu stürzen?

Wenn wir uns heute in Trauer vor allen Opfern von Krieg und Gewalt verneigen, dann sollten wir uns fest vornehmen, Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, wieder mehr Geltung zu verschaffen, die er in dem Satz gebündelt hat: „Ich bin Leben das leben will, in mitten von Leben, das leben will.“

Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Wir alle haben Anteil daran, sie zu gestalten. Dafür stehen wir in der Verantwortung, jeder und jede einzelne. Denn Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind niemals selbstverständlich. Sie müssen jeden Tag durch konkretes Handeln, durch konkrete Taten neu erlebt und vermittelt werden. Nicht nur von Politikern. Sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern, von uns allen gemeinsam. Das ist das Vermächtnis der Opfer an diesem Volkstrauertag.