Pflege braucht mehr Courage – ein Blick nach vorne!

Pflege braucht mutige politische Entscheidungen und sie braucht ein selbstbewussteres Auftreten der Pflegenden.

Seit Jahren zeichnet sich ein Fachkräftemangel in der Pflege ab. Schätzungen gehen von rund 200.000 fehlenden Pflegekräften im Jahre 2030 aus.[1] Dies ist besonders alarmierend, da der Bedarf an pflegerischer Unterstützung steigt und eine würdevolle Pflege im Alter und bei Krankheit auch in unserer älter werdenden Gesellschaft zu gewährleisten ist.

Mit drei Gesetzen zur Stärkung der Pflege wurde die Pflegeversicherung in dieser Legislaturperiode an wichtigen Stellen reformiert. So erhalten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen wesentlich mehr Entlastung bei der häuslichen Pflege, sie haben mehr Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten. In den Pflegeheimen gibt es mehr Betreuungskräfte. Die Pflegedokumentation wird jetzt auf wesentliche Aspekte konzentriert. Eine längst überfällige und besonders wichtige Verbesserung gerade für Menschen mit demenzieller Erkrankung war die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

Warum braucht es dennoch einen mutigen Blick nach vorn? Was muss getan werden, um mehr Menschen für den verantwortungs- und anspruchsvollen Pflegeberuf zu begeistern?

Pflege braucht mehr Gestaltungsfreiheit und Vertrauen

Pflegekräfte sind bei ihrer täglichen Arbeit hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt, Schicht-, Wochenend- und Nachtdienste erschweren die Arbeitsbedingungen. Trotzdem ist die Identifikation der Pflegekräfte mit ihrem Beruf sehr hoch, sie empfinden ihre Arbeit als sinnstiftend und haben meist eine hohe intrinsische Motivation.

In ihrem Arbeitsalltag aber erleben Pflegekräfte häufig eine deutliche Diskrepanz zwischen ihrem hohen Berufsideal, dem ganzheitlichen Verständnis von Pflege und Sorge auf der einen Seite und den Alltagsabläufen auf der anderen.[2] Denn Ökonomisierung, zunehmende Arbeitsverdichtung sowie auf Dokumentation und ‚Messbarmachung‘ ausgerichtete Qualitätsanforderungen lassen wenig Raum für den Blick auf die Individualität des einzelnen Pflegebedürftigen in seinen sozialen Bezüge.

Examinierte Pflegefachkräfte haben aufgrund ihrer Ausbildung eine umfassende Methodenkompetenz, um auch komplexe Pflegeprozesse handhaben und steuern zu können. Und sie haben ebenso die fachliche und soziale Kompetenz erworben, sich um jeden Einzelnen und sein individuelles Wohlbefinden zu kümmern – also genau das, was Pflegebedürftige erwarten. Dafür brauchen sie aber Gestaltungsspielräume jenseits standardisierter Abläufe. Pflegerische Leistung kann keine Produktion nach Gebrauchsanweisung sein. Sorge heißt im Einzelfall sehr Unterschiedliches, wenn es darum geht, welche Hilfe und Tätigkeit für das Wohl des Menschen in seiner persönlichen Situation und Lebenslage ausschlaggebend ist. Es geht vor allem um Einfühlsamkeit und Fingerspitzengefühl, um Empathie.

Überregulierte Abläufe und Kontrollen, die sich nur am Zählbaren und Messbaren orientieren, sind demotivierend. Weil sie Pflegekräften suggerieren, sie wüssten nicht, was sie zu tun hätten. Sie aber brauchen wieder mehr Vertrauen in ihre verantwortungsvolle Arbeit. Daher ist es so wichtig, die vielfach überbordende Bürokratie und Regulierung auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren und damit der Qualitätsentwicklung mehr Raum zu geben. Pflegekräfte brauchen mehr Zutrauen und mehr Entscheidungsfreiheit für Abwägungen, die die Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt stellen.

Pflege braucht Zeit

Der hektische Arbeitsalltag der Pflegekräfte trifft auf Menschen im Entschleunigungsmodus, auf Menschen, für die Ruhe und Sicherheit, Geduld und Zuwendung immer wichtiger werden. Zuhören, menschliche Nähe, sich dem oder der Einzelnen zuwenden zu können – dafür brauchen Pflegekräfte wieder mehr Zeit.

Auch Selbstbestimmung braucht Zeit! Wo eine schlichte Frage „Was möchten sie heute gern essen?“ nicht schnell oder eindeutig beantwortet werden kann, wird das gemeinsame Abwägen von Pflegealternativen bei Inkontinenz oder medizinischen Akutphasen zu einem zeitaufwändigen Unterfangen. Doch genau da geht es um die Wahrung von Würde und Selbstbestimmung! Und das braucht Zeit.

Nicht nur die Pflegebedürftigen sind Leidtragende des Zeitmangels, sondern auch die Pflegekräfte selbst, die eine zunehmende Entfremdung von ihrer täglichen Arbeit erfahren und denen es schwerfällt, ihren Arbeitsalltag mit ihrem Verständnis von einer würdevollen Pflege in Einklang zu bringen.

Darum ist es so wichtig, die Personalschlüssel in der Pflege zu verbessern. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber die Pflegeselbstverwaltung beauftragt, bis zum 30. Juni 2020 ein Personalbemessungsverfahren für die Langzeitpflege zu entwickeln und zu erproben. Die Einführung von bundeseinheitlichen Personalschlüsseln kann, ja muss diesen eingeschlagenen Weg fortführen. Nur dann wird es gelingen, engagierte Pflegekräfte in diesem für uns alle so wichtigen Arbeitsfeld zu halten. Nur so besteht Hoffnung, dass jene, die aus dem Beruf ausgestiegen sind, weil sie nicht mehr so pflegen konnten, wie sie es gelernt oder aus innerer Überzeugung praktiziert haben, wieder den Weg zurück in die Pflege gehen.

 Pflege braucht gute Bezahlung

Trotz der hohen Nachfrage nach Pflegekräften steigen die Löhne in den Pflegeberufen unterdurchschnittlich. Und trotz gleichen Ausbildungsniveaus verdienen Fachkräfte in der Altenpflege rund ein Fünftel weniger als in der Krankenpflege; bei ambulanten Diensten tätige Fachkräfte der Kranken- und Altenpflege verdienen bis zu einem Drittel weniger als im stationären Bereich. Außerdem variiert die Bezahlung regional mitunter erheblich.[3]

Um die Gehaltsunterschiede zu beseitigen, braucht es mehr Mut, neue Wege zu beschreiten. Der mit der Reform der Pflegeberufe geplante einheitliche Berufsabschluss wäre ein wichtiger, ja ein notwendiger Schritt – ein gemeinsames, selbstbewusstes Auftreten der Pflegekräfte ein weiterer.

Während in anderen Branchen starke Gewerkschaften großen, einheitlich agierenden Arbeitgeberverbänden gegenüberstehen und Tarifverträge für die ganze Branche aushandeln, ist die Landschaft der Arbeitsbeziehungen in der Pflege stark zersplittert. So lehnen sich kommunale und kirchliche Pflegeanbieter im Wesentlichen am Tarif des Öffentlichen Dienstes an und zahlen in den meisten Regionen recht ordentliche Gehälter. Im weiten Feld der unterschiedlichen Pflegedienstleister gibt es aber auch viel Wildwuchs mit unterschiedlichen Tarifen und vielen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern.

Gehaltsunterschiede von bis zu 800 € im Monat bei gleichem Ausbildungsabschluss führen zu berechtigten Klagen der schlecht verdienenden Pflegekräfte. Es vermittelt gleichzeitig der Öffentlichkeit, Pflege sei ein schlecht bezahlter Beruf. Diesem Eindruck kann langfristig nur mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die Pflege begegnet werden. Dass ein solcher Tarifvertrag an den heutigen oberen Pflege-Tarifgehältern aufsetzen muss, sollte angesichts der anspruchsvollen Tätigkeit und der Nachwuchssorgen selbstverständlich sein. Nur so kann die auf dem Rücken von Pflegekräften ausgetragene Wettbewerbsverzerrung zwischen gewinnorientierten, häufig nicht tarifgebundenen und freigemeinnützigen, in der Regel tarifgebundenen Pflegeanbietern auf lange Sicht beendet werden.

Sollten wir nicht gerade in der Pflege so mutig sein, eine 35-Stunden-Woche zu fordern? Das ließe ganz andere Schichtmodelle zu in einem Arbeitsfeld, das 365 Tage im Jahr rund um die Uhr beackert werden muss. Das würde mit Sicherheit auch viele Teilzeitkräfte ermuntern, auf Vollzeit umzusteigen.

Schon die Debatte über die Einführung eines solchen Tarifs für Pflegekräfte wird die notwendige Diskussion in unserer Gesellschaft über den Wert der in der Pflege geleisteten Arbeit beflügeln. Denn eine bessere Bezahlung dient nicht nur der Gewinnung von Fachkräften, sondern verbessert auch die gesellschaftliche Wertschätzung des Pflegeberufs.

Pflege braucht mehr Courage und ist bezahlbar

Um die Pflege nach vorne zu bringen, muss sie politischer werden. Die in der Pflege Tätigen müssen selbstbewusster auftreten, sich organisieren und Verbündete für ihre Belange suchen. Pflegekräfte sollten ihre Anliegen nachdrücklich einfordern. Und Politik muss für eine bessere Vertretung der Pflege in Entscheidungsgremien auf Bundes- und Landesgremien sorgen. Denn Pflege braucht eine bessere Lobby.

Es öffnen sich neue Perspektiven, wenn man sich traut, das Gewohnte einmal zu verlassen. Das gilt auch für die Finanzierung. Schon höre ich die Frage: Wer soll das bezahlen? Aber wollen wir es uns wirklich leisten, alten Menschen eine würdevolle Pflege vorzuenthalten? Nein, denn es gibt sehr gute Argumente für eine weitere Beitragserhöhung in der Sozialen Pflegeversicherung. Wer wäre nicht bereit, noch einmal etwas mehr in die Pflegeversicherung zu bezahlen, um damit mehr Menschlichkeit in der Pflege zu erreichen? Um damit den Pflegeberuf zu stärken. Um den Pflegenden endlich mehr Wertschätzung entgegen zu bringen. Gut bezahlte und in Vollzeit tätige Pflegekräfte stärken unsere Sozialversicherungen. Und die Umgestaltung der Pflegeversicherung zur Pflegebürgerversicherung schafft nicht nur einen Solidarausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung, sondern eröffnet neue Handlungsoptionen. Und wenn die Krankenversicherung die Kosten der medizinischen Behandlungspflege übernimmt, gewinnen die Pflegeheime finanziellen Handlungsspielraum für bessere Pflegeschlüssel.

In dieser Zeit der Schnelllebigkeit und Arbeitsverdichtung ist es notwendig, der Pflegebranche die Chance zur Reformation zu geben. Ein Stück weg von der zunehmenden Ökonomisierung und Rationalisierung nach Effizienzkriterien. Dafür wieder mehr Raum für das, was Pflege eigentlich ausmacht, die individuelle Sorge für den Einzelnen. Damit Achtsamkeit und Sorgfalt nicht unter die Räder kommen. Nur so wird es gelingen, in Zukunft wieder mehr Menschen für diesen wertvollen Beruf begeistern zu können.

Eine Kurzversion dieses Artikels erschien am 17.05.2017 in der Frankfurter Rundschau.

[1] Vgl. Übersicht über verschiedene Studien im Siebten Altenbericht der Bundesregierung, Drs. 18/10210, S. 199

[2] Vgl. Siebter Altenbericht der Bundesregierung, Kap. 7: Sorge und Pflege, Drs. 18/10210, S. 181 ff.

[3] Vgl. IAB Studie, Viel Varianz. Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient, 27.01.2015